Ich Lasse Das Motorrad Vor Mir Abbiegen

Da stehe ich also, an der Ampel, die Sonne scheint mir ins Gesicht, und ich warte, wie jeden Morgen, darauf, dass das grüne Licht mir den Weg freimacht. Neben mir brummt ein Motorrad, ein richtig fettes Teil, Chrom blitzt, Lederjacke, der ganze Kram. Der Fahrer? Sieht aus, als hätte er schon ein paar Abenteuer hinter sich. So ein richtiger Easy Rider-Typ, nur eben in Spießbürger-Ausführung.
Die Ampel springt um. Grün. Ich trete ins Gas, der Motor brummt zufrieden, und ich biege ab. Ganz normal. Aber dann... dann sehe ich im Rückspiegel, dass das Motorrad, dieses imposante Stahlross, mir einfach folgt! Ich meine, was soll das denn jetzt?
Ich biege rechts ab, er auch. Ich biege links ab, er klebt an meinem Heck wie ein Magnet. Erst denke ich, ich bilde mir das ein. Vielleicht wohnt er ja einfach in der gleichen Gegend wie ich. Zufälle gibt's ja bekanntlich.
Aber dann wird es absurd. Ich fahre in den Supermarkt-Parkplatz. Er auch. Ich parke. Er parkt direkt neben mir, so dicht, dass ich kaum die Tür aufkriege. Ich steige aus, werfe ihm einen fragenden Blick zu. Er grinst nur, nimmt seinen Helm ab und sagt: "Ich lasse das Motorrad vor mir abbiegen!"
Ich starre ihn an. "Bitte?"
Er lacht. Ein herzliches, ansteckendes Lachen. "Ich habe keine Ahnung, wo ich hin muss. Ich bin einfach losgefahren und dachte mir, ich folge dir einfach mal. Siehst aus, als wüsstest du, wo's langgeht."
Unglaublich. Einfach unglaublich. Da steht dieser Kerl, der aussieht, als hätte er die ganze Welt gesehen, und er gesteht, dass er sich einfach treiben lässt und sich anscheinend nach meinem Navigationssystem richtet.
Ich konnte nicht anders, ich musste mitlachen. "Okay", sage ich. "Ich gehe einkaufen. Willst du mitkommen? Brauchst du was?"
Er zuckt mit den Achseln. "Kaffee wäre super."
Also, da stehen wir jetzt, im Supermarkt, ich mit meinem Einkaufszettel, er mit seinem Helm in der Hand, und wir suchen Kaffee. Ich, die brave Bürgerin, die jeden Morgen pünktlich zur Arbeit fährt, und er, der Easy Rider-Imitator, der sich einfach so treiben lässt. Eine skurrile Mischung.
Das ungeplante Abenteuer
Nach dem Einkaufen beschließen wir, einen Kaffee zu trinken. Er erzählt mir von seinen Reisen, von seinen Motorradtouren durch die Alpen, von seinen Begegnungen mit schrägen Vögeln. Ich erzähle ihm von meinem Bürojob, von meinen Katzen und von meinem langweiligen Leben.
Er hört aufmerksam zu, nickt und sagt: "Vielleicht solltest du öfter einfach mal das Motorrad vor dir abbiegen lassen."
Ich muss schmunzeln. Vielleicht hat er ja recht. Vielleicht sollte ich mich öfter mal treiben lassen, das Unbekannte suchen, aus meiner Komfortzone ausbrechen. Aber jetzt erst einmal zurück in diese, da wartet ein Berg an Arbeit.
Der Abschied
Nach dem Kaffee verabschieden wir uns. Er steigt auf sein Motorrad, grinst mich an und sagt: "Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder. Dann lasse ich dich abbiegen."
Ich winke ihm zu und sehe ihm nach, wie er davonbraust, dieses imposante Motorrad, das einfach so beschlossen hat, mir zu folgen. Ich lasse das Motorrad vor mir abbiegen – was für ein verrückter Gedanke.
Als ich abends im Bett liege, denke ich über diesen Tag nach. Über diesen seltsamen Zufall, über diesen schrägen Vogel mit seinem Motorrad, und über die Botschaft, die er mir mitgegeben hat. Vielleicht sollte ich wirklich öfter einfach mal das Unbekannte wagen. Vielleicht ist das Leben ja viel aufregender, als ich denke. Vielleicht wartet hinter der nächsten Ecke ein neues Abenteuer, eine neue Begegnung, ein neuer Easy Rider, der mich aus meinem Alltagstrott reißt.
Und vielleicht, ja vielleicht, lasse ich das nächste Mal wirklich das Motorrad vor mir abbiegen.
Denn eines ist sicher: Dieser Tag hat mir gezeigt, dass das Leben voller Überraschungen steckt. Man muss nur bereit sein, sie anzunehmen.



