Persönliche Erlebnisse Der Flucht 1945

Stell dir vor, du bist ein Kind, die Welt brennt, und "Ferien" haben eine ganz neue, angsteinflößende Bedeutung. 1945. Das Ende des Krieges. Für Millionen Deutsche bedeutete das: Flucht. Und meine Oma war mittendrin, eine kleine Elfe mit Zöpfen, auf einem Abenteuer, das alles andere als lustig war, aber im Nachhinein so einige verrückte Geschichten hervorbrachte.
Der gepackte Koffer und die sprechenden Hühner
Oma erzählte immer von dem einen Koffer. Nicht, weil er besonders schön gewesen wäre, sondern weil er so dumm gepackt war. Kindheitserinnerungen halt. Ihre Mutter, meine Uroma, hatte panisch das wichtigste eingepackt: das Tafelsilber (für bessere Zeiten!) und...Hühnerfutter. Ja, richtig gelesen. "Man weiß ja nie, wann man mal Hühner füttern muss!", hatte sie wohl gedacht. Hühner waren aber nirgends in Sicht, nur Staub, Schlamm und die Angst in den Augen der Menschen.
Und dann waren da die "sprechenden" Hühner. Nicht wirklich, natürlich. Aber auf der Flucht, als sie in irgendeinem verlassenen Bauernhof Unterschlupf fanden, gackerte eine Henne so laut und anhaltend, dass Oma überzeugt war, das Tier wollte sie vor irgendetwas warnen. Wahrscheinlich hatte es nur Hunger, aber in ihrer kindlichen Fantasie war die Henne eine Art gefiederter Schutzengel.
Mit dem Leiterwagen Richtung Ungewissheit
Die Flucht selbst war ein einziges Chaos. Ein Leiterwagen, vollgepackt mit Habseligkeiten, gezogen von müden Pferden (oder manchmal auch von müden Menschen). Eine endlose Prozession von Leuten, die alles verloren hatten. Oma erinnerte sich an die Stille. Eine drückende Stille, die nur vom Knarren des Wagens und dem Weinen der Kinder unterbrochen wurde.
Es gab aber auch Momente der Menschlichkeit. Fremde teilten ihr Brot, halfen einander über holprige Wege. Ein alter Mann schenkte Oma eine geschnitzte Holzfigur. Ein kleines Mädchen teilte ihre Bonbons. Inmitten des Elends gab es kleine Inseln der Hoffnung und der Freundlichkeit. Diese kleinen Gesten, erzählte sie immer, haben ihr den Glauben an das Gute im Menschen bewahrt.
Die russischen Soldaten und die unerwartete Hilfe
Die Begegnung mit den russischen Soldaten war natürlich furchteinflößend. Alle hatten Angst. Aber dann passierte etwas Unerwartetes. Einer der Soldaten, ein junger Mann mit einem freundlichen Gesicht, schenkte Oma eine Orange. Eine einfache Orange. Für sie, die seit Monaten keine Süßigkeit gesehen hatte, war es das kostbarste Geschenk der Welt. Sie erinnert sich noch genau an den süßen Duft und den saftigen Geschmack. "Es war, als ob die Sonne in meinem Mund aufging", sagte sie immer.
Ein anderer Soldat half ihnen sogar, den festgefahrenen Leiterwagen aus dem Schlamm zu ziehen. Vielleicht hatte er selbst eine Familie, die irgendwo auf der Flucht war. Vielleicht sah er in Oma einfach nur ein verängstigtes Kind. Was auch immer seine Motivation war, er half. Und für Oma war diese unerwartete Hilfe ein Beweis dafür, dass selbst im Krieg nicht alle Menschen zu Monstern werden.
Das Ende der Flucht und der Beginn eines neuen Lebens
Irgendwann, nach unendlich langen Tagen und Nächten, kamen sie an einem Ort an, wo sie bleiben konnten. Eine zerbombte Stadt, aber ein Ort, an dem sie wieder ein Zuhause finden konnten. Der Koffer mit dem Tafelsilber und dem Hühnerfutter? Irgendwann verloren gegangen. Aber die Erinnerungen an die Flucht blieben. Und mit ihnen die Lehre, dass selbst in den dunkelsten Zeiten Hoffnung und Menschlichkeit existieren.
Omas Geschichten von der Flucht 1945 sind nicht nur traurig. Sie sind auch voller Humor, voller Überraschungen und voller kleiner, wundersamer Momente. Sie zeigen, dass das Leben selbst in den schlimmsten Umständen weitergeht und dass es immer einen Grund gibt, weiterzumachen. Und sie erinnern uns daran, wie wichtig es ist, Menschlichkeit zu bewahren, egal was passiert.
Das nächste Mal, wenn du also deine Oma besuchst, frag sie doch mal nach ihren Geschichten. Vielleicht erzählt sie dir auch von sprechenden Hühnern und Orangen von russischen Soldaten. Du wirst überrascht sein, was du alles entdecken kannst.



